Artikel von Jörg Niendorf in der Berliner Morgenpost

Über eine einzige, holprige Treppe gelangt man zum Bahnsteig A. Alle anderen Zugänge sind abgesperrt – oder abgerissen worden, und das schon vor Jahrzehnten. In dieser verwunschenen Ecke macht das Ostkreuz seinem Ruf als Rostkreuz allergrößte Ehre. Auf der einen Seite Fachwerkbrücken und der düstere Wasserturm mit Pickelhaube, auf der anderen Seite rot-gelb geklinkerte Bahnsteighäuschen, vorbeifahrende S-Bahnzüge in denselben Farbtönen und das derzeit ebenso bunte Herbstlaub. Den 30 Jahre alten Thomas Kabisch zieht es oft hier oben „ins Idyll“, wie er es nennt. Obwohl er eigentlich immer nur vom unteren, quirligen Bahnsteig D in Richtung Zentrum abfahren muß. Kabisch, von Beruf Informatiker und in zweiter Profession ein versierter Ostkreuzler, wohnt gleich um die Ecke. Seine Sammlung von jetzt schon 15000 Eisenbahndias wächst unaufhörlich, gerade das Kapitel Ostkreuz wird größer und größer.

Auf engstem Raum sind an diesem Kreuzungspunkt in Friedrichshain die Ringbahn und mehrere Ost-West-Strecken miteinander verknüpft. Insgesamt gibt es vier S-Bahnsteige, alle sind Nostalgie pur. Sämtlich liegen sie unter einfachen Vorkriegsdächern, von denen die Lackreste rieseln. Es gibt keine Hallen. Ebenso wenig Aufzüge, Rolltreppen. Max der Maulwurf, das Bau-Maskottchen der Bahn, hat sich bislang nicht hierher verirrt.

Wenn sich jetzt auch noch ein Novemberschleier über das Ensemble legt, paßt das nur zu gut ins Bild. Vielen schaudert, doch die Liebhaber sehnsüchteln. So muß das S-Bahn-Fahren der frühen Jahre gewesen sein! Jede Stimmung zählt für sie in diesem Eisenbahnmuseum. Nichts anderes ist Berlin-Ostkreuz: Eine große Freilichtausstellung. Gleichzeitig steht dieses Relikt vergangener Zeiten mitten im Hier und Jetzt, ausrangiert ist es lange nicht. Jeden Tag muß sich das knarzende Kreuz bewähren. Es ist die belebteste S-Bahn-Station der Stadt, bis zu 150 000 Menschen zwängen sich täglich über schmale Treppen, Rampen und durch unübersichtliche Übergänge, frieren auf zugigen Bahnsteigen. Umbaupläne gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg, in der DDR sowieso, und auch jetzt wird die Sanierung seit Jahren angekündigt. Mit schöner Regelmäßigkeit verschiebt sich jedoch alles und so passiert – nichts.

Andernorts in Berlin entstehen gigantische, flughafenartige Umsteigeterminals. Hauptbahnhof, Südkreuz (also Papestraße) und Nordkreuz (also Gesundbrunnen) gleichen Orgien in Beton, Stahl und Glas. Dagegen nimmt sich das Ostkreuz aus wie ein schmuddliger Exot. Wie der Altrocker aus dem zweiten Hinterhof, der alle beharrlich nervt und doch ein Unikum und irgendwie nicht wegzudenken ist. Also rockt auch das Ostkreuz immer weiter. Dafür, so scheint es, zollen ihm viele Respekt, je mehr Jahre ins Land gehen. Bewundert wird, wie standhaft und unbeirrbar das Schienenkreuz einfach nur funktioniert. Man muß nicht mal Eisenbahnfetischist sein, um von diesem Faktotum angezogen zu werden.

Zur Erinnerung: Ähnliche, aber kleinere Knotenpunkte am S-Bahn-Ring, Schöneberg oder Westkreuz etwa, wurden bereits vor 70 Jahren umgebaut. Da bekamen sie Hallendächer. Wie in der Ära davor gebaut wurde, das läßt sich bis heute am Ostkreuz studieren. Das ist doch auch etwas. Es gibt Dachkonstruktionen mit gußeisernen Stützen außen oder massiven Stahlpfeilerreihen in der Mitte. Nur leider leckt es oft durch bei Regen. Im Mosaikpflaster findet man bisweilen Deckel von Kabelschächten mit königlich-preußischem Emblem. „Vor 1900.“ Präzise erläutert Kabisch das gekrönte Flügelrad, das auf dem Trottoir blinkt. Generationen von Umsteigern haben es mit ihren Schuhsohlen blankpoliert. Wieder einmal verbringt der junge Mann einen Herbstmorgen am Ostkreuz. Gerade lauert er darauf, einen Zug auf der Südkurve abzulichten. Über diese schwenken Züge aus Schönefeld auf die Stadtbahn ein. Aber sie halten nur, wenn sie von Süden kommen, in der Gegenrichtung nicht. Da fehlt der Bahnsteig seit über 30 Jahren. An eben dieser Kurve sucht jetzt auch Thomas Fischer sein Glück. Der ist das erste Mal mit einer restaurierten Leica von 1952 unterwegs, seiner jüngsten Errungenschaft. Der Vater des heute 34jährigen hatte einst die Begeisterung für das Unikum Ostkreuz geschürt. „Schon in der DDR war der Bahnhof ein Thema für sich“ sagt Fischer. So begann er hier als Junge in den Achtzigern zu knipsen. Heute fotografiert er nur mit Sammlerstücken, er hat auch Kameras von 1942 und 1939.

„Viele Fotografen treffe ich regelmäßig, man kennt sich vom Sehen“, erzählt Thomas Kabisch. Manche geben Tips in Internetforen, was wann zu beobachten ist. Einige präsentieren ihre Bilder im Netz. Kabisch dagegen kommt ganz real mit anderen Bahnanhängern zusammen, einmal im Monat zeigen sie sich neue Dias. Junge und alte Fans zieht das Kreuz magisch an. Die einen suchen in diesem Mikrokosmos architektonische Details, alte Technik oder Buden. Skurrile Motive wie den am Vorplatz vernagelten „Frisör für den Herren“ oder die „Blumen für „Sie'“ auf dem Bahnsteig nach Lichtenberg. Andere wollen Atmosphäre, Stadtkulissen oder Zeichen des Niedergangs. Abgesperrte Gleise, vermooste Treppen. Ein angestaubtes Ost-Flair – also das, was im benachbarten Szeneviertel Friedrichshain mittlerweile schon wieder verschwindet, weil die Häuser gründlich saniert werden. Auf den Bahnhof ist jedoch Verlaß, er bietet maroden Charme en masse. „Wieder andere Fotografen wollen nur bestimmte Züge, spezielle Baureihen oder Fahrzeugnummern“, sagt Kabisch. „Das ist wie Tierfotografie: Oft müssen die ganz schön warten.“ Er selbst verfolgt alles, was am Ostkreuz so rollt und rockt. Stimmungen, Züge, Menschenmengen.

Genug Bewegung ist immer. Auf dem maroden Gleisknäuel herrscht zu jeder Zeit Hochbetrieb, ständig rauscht ein Zug vorbei. Deshalb ist die Station für Fans die „betrieblich interessanteste von ganz Berlin“. Zwischen 1881 und 1900 ist das Kreuz im Eiltempo gewachsen, auf Zweckmäßigkeit konnte niemand recht achten. Alle Züge, die im Osten Berlins verkehren, müssen das Nadelöhr passieren. Manchmal nur in Schrittgeschwindigkeit. Neben S-Bahnen sind es auch ICE, Nachtzüge und Regionalbahnen. Leute wie Thomas Kabisch kennen alle. Sie wissen ebenfalls ganz genau, zu welcher Uhrzeit eine „Ludmilla“, also eine Diesellok, ausnahmsweise auf den S-Bahngleisen ein paar City-Nightline-Wagen zur Warschauer Straße rangiert. Das ist ein äußerst beliebtes Motiv. Genauso der Güterzug der S-Bahn, der ab und zu vorbeikommt. Er ist aus alten Viertelzügen und Pritschenwagen zusammengesetzt. Alle wissen, was sie an der verlotterten Station haben. Nämlich den Urzustand und eine permanente Rush-Hour. Sonst erginge es ihnen doch oft so, sagt Kabisch: „Entweder man findet schöne alte Bahnanlagen, aber es nichts mehr los – wie in Polen. Oder es ist viel los, und dann gibt es nur noch Beton – so wie mittlerweile meistens in Berlin.“

Phasenweise kommen Gerüchte über bevorstehende Bauarbeiten auf. Ende 2005 galt zuletzt als Termin. Das reichte, um in jüngster Zeit besonders viele Neugierige anzuziehen. Sie wollten noch einmal alles gründlich dokumentieren. Da wußten die Profis längst, daß sich ohnehin nichts tun würde. Fischer, Kabisch und alle Weggefährten können die Daten herunterbeten, an denen der Startschuß fallen sollte: 1999, 2002, 2005… Sie lächeln nur müde. Abgedroschen sind sogar die Wortspiele. Bis vor ein, zwei Jahren kokettierte man selbst in hohen S-Bahn- oder Deutsche-Bahn-Etagen mit Sprüchen: daß das „Ostkreuz nur noch aus Gewohnheit steht“ oder daß es nur „von Rost und Schmutz zusammengehalten wird“. Jetzt ist selbst der Galgenhumor verstummt. Man läßt fahren und hofft, daß es irgendwie hält. „Ohne das Ostkreuz bricht der S-Bahn-Verkehr zusammen, deshalb traut sich da keiner ran.“ So schildert ein Zugführer, der gerade abgelöst wurde, die Lage. Dann verschwindet er im Container, der für ihn und seine Kollegen als Aufenthaltsraum aufgestellt wurde. Immerhin diese Neuerung gab es. Die für den Umbau zuständige Deutsche Bahn AG läßt folgenden Stand der Dinge mitteilen: Der Planfeststellungsbeschluß stehe aus, und auch danach müsse zunächst das Land Berlin eine parallel zur Ringbahn verlaufende Straßenbrücke neu errichten. Ein neuer Zeitpunkt des Baubeginns wird ausnahmsweise nicht genannt. Oder schlauerweise? Sicher sei nur, sagt Bahn-Sprecher Michael Baufeld, daß der Umbau schrittweise im laufenden Betrieb stattfinden und sieben bis zehn Jahre dauern werde.

Bis der Beton, der natürliche Feind aufrechter Bahnfans, Einzug hält, kann es lange dauern. Auf ganz wenigen Quadratmetern gibt es ihn sogar schon, aber eigentlich merkt das keiner. Auf dem Ringbahnsteig liegt ein Stückchen neues Waschbetonpflaster. „Das war die einzige Instandsetzung seit 1990“, schmunzelt der Fachmann Kabisch. Gern macht er auch darauf aufmerksam, daß alle Stationsschilder aus DDR-Zeiten stammen und daß Wegweiser zur Tram führen, die seit Ewigkeiten nicht mehr fährt. Vieles, das muß er zugeben, ist jedoch eine echte Zumutung. Dementsprechend sind denn auch die Mienen der Menschen, die von einem Bahnsteig zum anderen hasten, stolpern oder geschoben werden, nicht gerade nostalgisch-beflügelt, sondern eher ungeduldig und finster. Etwa um sieben Uhr morgens, der absoluten Spitzenzeit. Dann zählt nur, den Ort so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Schubweises Drängeln über die Ebenen und um die Ecken. Schilder warnen vor „Schäden im Treppenbereich“ und „Lücken zwischen Zug und Bahnsteig“. Aber nicht nur Bauschäden können einen zu Fall bringen, schon das ausgestreckte Bein eines Sitzenden reicht aus. Ein gnadenloses Gedränge herrscht an den Treppenabgängen am Ringbahnsteig. Ausgerechnet da stehen Sitzbänke, weil es die wenigen windgeschützten Plätze sind.

Eine der Treppen spült die Menschen unten direkt an eine kleine Obstbude heran. Auch dieser dunkelgrüne Verschlag ist ein Phänomen wie das ganze Ostkreuz. Es gibt den Stand seit 15 Jahren, er macht nie zu. An Thorsten Brabenders Bude kommt keiner vorbei. Bananen nachts um vier, wenn am Wochenende der Bahnhof so rammelvoll ist wie sonst morgens um acht: kein Problem. Brabender profitiert davon, daß die Zeit stillsteht am Ostkreuz. Einen so günstigen Standort bekommt er nicht wieder. Dafür machen er und seine Leute einen Knochenjob im wahrsten Sinne. Alles müssen sie über die Treppen und den oberen Bahnsteig herschleppen. Die Ware mit der S-Bahn heranzuschaffen, ist schon seit zehn Jahren verboten.

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